An einem Freitag in Zermatt

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Felix
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An einem Freitag in Zermatt

Beitrag von Felix »

«Tagwohl» hallt es durch den noch leeren Waggon. Es ist 6.40 Uhr. Die Glastüren des Bahnhofsgebäudes haben sich erst vor wenigen Minuten geöffnet. Die Schalter sind noch verwaist. Am Bahnsteig steht dafür einer der charakteristisch braunen Triebwagen schon bereit. Ein kleineres Modell, wesentlich kürzer als die in der Hauptverkehrszeit eingesetzten Doppeltraktionen. Doch deren Kapazität wird zu dieser frühen Stunde noch nicht benötigt. Als einer der ersten Fahrgäste nehme ich im hinteren Teil des Wagens Platz. In knapp 20 Minuten wird der Zug den Bahnhof verlassen und eine der bekanntesten Bahnstrecken der Welt befahren. Von Zermatt auf den Gornergrat.

Tor zu einer anderen Welt

Außer mir sind bislang nur ein paar einheimische Arbeiter eingetroffen. Das Publikum ist so früh am Morgen ein anderes, als man es sonst aus den Metropolen der Alpen kennt. Das wird bereits auf dem Weg von Täsch in das bekannte Alpendorf deutlich. Die 1.300-Seelen-Gemeinde ist der letzte Ort im Walliser Mattertal vor Zermatt. Und irgendwie so etwas wie das Tor zu einer anderen Welt. Das öffentliche Straßennetz endet hier. Weiter talaufwärts geht es von hier aus nur noch mit Sonderbewilligung. Oder mit einem der zahlreichen in Täsch ansässigen Taxiunternehmen. Zumindest bis zum Ortseingang von Zermatt, denn der Ort selbst ist autofrei.

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Wer Zermatt aber auf klassischem Wege erreichen will, der tut das mit der Eisenbahn. 1891 erreicht der erste Zug den Endbahnhof der Visp-Zermatt-Bahn, heute sind es bis zu 90 Züge pro Tag. Darunter auch der täglich verkehrende Glacier-Express aus St. Moritz. Die meisten Waggons pendeln jedoch nur als Shuttle auf der kurzen Strecke zwischen Zermatt und Täsch. Hier befindet sich ein Parkareal, das fast so groß ist wie der ganze Ort. 2006 erfolgt eine Erweiterung des Bahnhofsgeländes durch den Bau des sogenannten Matterhorn-Terminals. Inklusive Parkhaus mit 1.700 Stellplätzen.

Seither ertönt am Bahnhof Täsch mindestens im 20-Minuten-Takt der Pfiff des Zugbegleiters für die Abfahrt nach Zermatt. Für eine Abfahrt in einen ganz eigenen Kosmos. Eine fast schon zu perfekte Inszenierung einer idealtypischen Alpen-Tourismuslandschaft. Es fehlt eigentlich nur noch ein Gleis 9 ¾ am Bahnhof in Täsch, um das Märchen perfekt zu machen.

Mit dem Regionalzug nach Zermatt

An diesem frühen Morgen fährt der Hogwarts-Express aber in Gleis 4 ab. Der Regionalzug kommt aus Visp und ist bei seiner Ankunft in Täsch um 6.21 Uhr bereits gut besetzt. Am Bahnsteig bin ich jedoch der einzige Fahrgast, der noch zusteigt. Und vermutlich auch einer der wenigen, wenn nicht gar der einzige Tourist in diesem Zug. Um diese Uhrzeit sind es einheimische Pendler und Gastarbeiter auf dem Weg in die unzähligen Geschäfte, Restaurants und Hotels, die auf den weichen Sitzen des Panoramawagens noch ein wenig Schlaf nachholen.

Im Zug herrscht gespenstische Stille. Das einzige Wort, das während der knappen Viertelstunde in dem Waggon fällt, ist ein kurzes «Merci» des Zugbegleiters für das Vorzeigen meiner Fahrkarte. Draußen zieht die dunkle Landschaft vorbei. Auch auf dem sonst so bevölkerten Zermatter Bahnhofsvorplatz kehrt kurz nach Ankunft des Zuges wieder Ruhe ein. Nur die Straßenlaternen und die Scheinwerfer der abgestellten Elektrotaxis spenden Licht. Die Szenerie erinnert an die langen Minuten kurz vor Beginn einer Theateraufführung. Stille. Spannung. Und jeder Darsteller weiß, was zu tun ist, wenn das Schauspiel in Zermatt in wenigen Minuten beginnt.

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Ein Gipfel aber überstrahlt auch schon jetzt die Dunkelheit. In der Ferne ragt das frisch verschneite Horu, wie der vielleicht bekannteste Gipfel der Welt im lokalen Dialekt genannt wird, in den sternenklaren Himmel. Und nun, wo sich der Vorhang der Nacht langsam von der Bühne hebt, sitze ich also hier, im ersten Zug des heutigen Tages von Zermatt auf den Gornergrat.

Das Schauspiel beginnt

Seit Ende des 19. Jahrhunderts stellt die Zahnradbahn die Fortsetzung der Bahnstrecke von Visp nach Zermatt dar. Bereits kurz nach deren Eröffnung gibt es Bestrebungen, die Bergwelt rund um Zermatt mit technischen Aufstiegshilfen zugänglich zu machen. Die Belle Époque liegt in voller Blüte, das Eisenbahnfieber ist groß wie nie. Und nach der Erstbesteigung des Matterhorns 1865 scheint die Bergwelt der Alpen vollständig bezwingbar.

Auch der Berg der Berge soll durch eine Kombination aus Eisenbahn und Standseilbahn erschlossen werden. Obwohl sogar eine Konzession zum Bau einer solchen Aufstiegshilfe erteilt wird, wird die Matterhornbahn nie Realität. Die Arbeiten konzentrieren sich stattdessen auf die zweite geplante Bahnstrecke, die das Monte-Rosa-Massiv erschließen soll. 1896 beginnen die Bauarbeiten für die Zahnradbahn auf den Gornergrat. Zwei Jahre später, am 20. August 1898, erreicht schließlich der erste planmäßige Kurs den Endbahnhof in 3.089 Meter Höhe. Bis zur Fertigstellung der Jungfraubahn 1912 ist die Gornergratbahn damit die höchstgelegene Bahnstrecke Europas. Fortwährende Modernisierungen und Erweiterungen verkürzen in den folgenden Jahrzehnten die Fahrtdauer und erhöhen die Kapazität. Ihren ursprünglichen Charme hat die Bahn aber bis heute nicht eingebüßt.

Von Zermatt auf den Gornergrat

Mit etwas Verspätung setzt sich der Triebwagen um kurz nach sieben Uhr mit hörbarem Klacken der Zahnräder in Bewegung. Schnell gewinnt die Bahn an Höhe, als sie die Dächer der Chalets hinter sich lässt. In den Hotels entlang der Bahnstrecke brennt bislang nur Licht in den Küchen. Die Vorbereitungen für das Frühstücksbuffet sind in vollem Gange.

Bis zur Abfahrt hat sich der Zug doch noch recht gut gefüllt. Trotz Nebensaison. Wobei es die in Zermatt streng genommen gar nicht gibt. Die Aufführungen erfreuen sich an jedem Tag im Jahr einem großen Publikum. Die ersten planmäßigen Halte am Findelbach und auf der Riffelalp verlaufen jedoch ohne weiteren Fahrgastwechsel. Erst an der Dienststation Riffelboden verlassen mit den Angestellten der Gornergratbahn die ersten Insassen den Wagen.

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Inzwischen beläuft sich die Verspätung auf vier Minuten. Bei einer reinen Ausflugsbahn ohne Anschlussrisiken eigentlich eine Lappalie. Doch auch die anderen verbliebenen Fahrgäste können ab und an einen nervösen Blick auf die Uhr nicht verstecken. Die meisten haben den Zug aus dem gleichen Grund genommen wie ich. Jeden Morgen besteht am Gornergrat die Möglichkeit, einem einzigartigen Naturschauspiel beizuwohnen. Die Ostwand des Matterhorns beginnt zu dieser Zeit in der aufgehenden Sonne zu leuchten. Ein besonderes Spektakel ergibt sich, wenn sich die Schweizer Ikone dabei auch noch in dem kleinen Riffelsee spiegelt. Der See liegt vom Wind geschützt in einer kleinen Senke unterhalb des Gornergrats. Ein Fotosujet, das keinem Landschaftsfotografen im Portfolio fehlen darf.

Das doppelte Matterhorn

Doch die Möglichkeit, den Sonnenaufgang ohne Übernachtung in einem der Hotels entlang der Bahnstrecke beizuwohnen, bietet sich nur an wenigen Tagen im Frühjahr und Herbst. Nämlich dann, wenn die Sonne spät genug aufgeht, die Gornergratbahn aber schon oder noch nach dem Sommerfahrplan fährt. Denn in der dunklen Jahreszeit verlässt der erste Zug Zermatt erst eine Stunde später. Das ist zu spät, um den Riffelsee noch vor Sonnenaufgang zu erreichen. Auch mit dem Zug um sieben Uhr ist die Sache Ende September äußerst knapp. Und so endet meine Zugfahrt vorerst an der Station Rotenboden. Während der Wagen die letzten Meter bis zum Gornergrat in Angriff nimmt, laufe ich gemeinsam mit einem Dutzend anderer Fotografen die kurze Strecke hinab bis zum Riffelsee.

Dort warten bereits weitere mit Stativ bewaffnete Personen, die die Nacht im Zelt am Berg verbracht haben. Über ihnen surrt eine Drohne. Mit einem unverfälschten Naturerlebnis hat das hier alles relativ wenig zu tun. Dennoch ist der Moment, als das obere Drittel des Matterhorns langsam golden zu leuchten beginnt, ein ganz spezieller. Eine Theateraufführung ist eben nie ganz perfekt.

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Es dauert nicht lange, da erstrahlen auch die Hänge des Riffelbergs am Gornergrat in der Morgensonne. Zeit, um die letzte Teilstrecke bis zur Endstation in Angriff zu nehmen. Eine Stunde nach meiner Ankunft am Rotenboden trifft der nächste Zug ein. Bis zum Gornergrat sind es nur noch wenige Minuten.

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Narben der Natur

Zum ersten Mal seit mehr als 22 Jahren stehe ich wieder hier oben. Und irgendwie ist alles noch ein bisschen so wie damals. Die kleine Kapelle oberhalb der Bahnstation, die Mauer vor dem Abhang in Richtung des Gornergletschers, die phänomenale Aussicht von Matterhorn bis Monte Rosa.

Doch die Zeichen der Zeit können nicht leugnen, dass mehr als zwei Jahrzehnte zwischen meinen Aufenthalten liegen. Wo seinerzeit noch mit Analogkameras hantiert wurde, dominieren an diesem Freitagmorgen Smartphones und Selfie-Sticks. Und auch wenn die umliegende Gletscherwelt so majestätisch daherkommt wie eh und je, ist der Ausblick auf den Gornergletscher imposant wie schockierend zugleich. Im oberen Teil ist ein Felsband ausgeapert, weiter unten ziehen Tauwasserbäche künstlerisch anmutende Bahnen über die Gletscheroberfläche. Auch die Natur hat in den letzten beiden Jahrzehnten Narben davongetragen.

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Und noch ist etwas anders als bei meinem letzten Besuch. Im Juni 1997 endet meine Reise nicht hier oben in 3.089 Metern Höhe. Mit zwei Seilbahnen geht es über den Hohtälligrat weiter bis auf das 3.400 Meter hohe Stockhorn. Schon viele Jahre sind die Anlagen mittlerweile Geschichte. Nur noch die Stationsgebäude erinnern an die 50 Jahre, in denen der Gornergrat nur Zwischenhalt auf dem Weg in die Bergwelt war. Lange Jahre vergnügten sich tausende skihungrige Gäste auf den anspruchsvollen Tiefschneeabfahrten auf der Nordseite des Stockhorns. Teilweise sind diese auch heute noch zugänglich. Aber auch hier musste der Mensch dem Gletscherrückgang Tribut zollen.

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Zermatt - Das Mekka der Seilbahnwelt

Doch auch ohne die Anlagen auf das Stockhorn darf sich Zermatt immer noch als Mekka der Seilbahnwelt bezeichnen. Etwa zur selben Zeit wie die Bahnen am Stockhorn entstehen auch unterhalb des Matterhorns die ersten seilgezogenen Aufstiegshilfen über Furi zum Schwarzsee. Es ist der Auftakt zur Erschließung eines weiteren Skiareals direkt am Fuße des Matterhorns. Eine spektakuläre Seilbahn folgt auf die nächste, 1979 ist schließlich das Klein Matterhorn erreicht. In einer Höhe von 3.820 Metern über dem Meer befindet sich hier die bis heute höchstgelegene Luftseilbahn-Bergstation Europas. Natürlich mit Blick auf den großen Bruder.

Seit dem letzten Winter ist die Anlage nicht mehr alleine. Zur Steigerung der Förderleistung erfolgt während mehrerer Jahre der Bau einer zweiten, parallelen Bahn. Keine Pendelbahn, sondern eine Umlaufbahn mit Kabinen für je 28 Personen. Matterhorn Glacier Ride nennt sich dieses Gebilde im Marketing-Universum. Ende 2018 kann die Bahn eingeweiht werden. Genau wie die bestehende Bahn zählt sie mit ihrem langen Spannfeld über den Theodulgletscher zu den spektakulärsten Seilbahnen der Welt. Eine Fahrt ist sie daher in jedem Fall wert.

Doch nicht nur das. Auch zahlreiche weitere Seilbahnen sind in Betrieb, denen ich acht Jahre nach meinem letzten Zermatt-Aufenthalt gerne wieder einmal einen Besuch abstatten möchte. Möglich macht das der sogenannte Peak Pass. Eine Flatrate für Fahrten auf dem gesamten Netz der Zermatt Bergbahnen für einen oder mehrere Tage.

Klassiker aus der Vergangenheit

An der Station Findelbach steige ich aus dem Zug aus, um nach einer kurzen Wanderung die Talstation des Matterhorn-Express im Ortsteil Winkelmatten zu erreichen. Die Kleinkabinenumlaufbahn führt über den Schwarzsee bis zum Trockenen Steg, dem einstigen Einstiegspunkt in das Zermatter Sommerskigebiet. An dieser Stelle starten auch die beiden Seilbahnen auf das Klein Matterhorn.

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Mein Weg führt mich aber erst einmal nicht zum Schwarzsee, sondern zu einem weiteren Zermatter Seilbahn-Urgestein. Die Luftseilbahn von Furi zum Trockenen Steg stellt seit 1982 eine Direktanbindung bis in knapp 3.000 Meter Höhe dar. Seit dem Bau des Matterhorn-Express hat sie an strategischer Bedeutung verloren. In der Hauptsaison ist sie nur noch selten in Betrieb. Doch im Herbst rückt dieser Klassiker aus der Vergangenheit wieder in den Vordergrund. Nämlich dann, wenn die Teilstrecke des Matterhorn-Express vom Schwarzsee zum Trockenen Steg wegen Revision geschlossen ist.

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Das Matterhorn Glacier Paradise

Am Trockenen Steg angekommen ist es soweit. Zum ersten Mal werde ich den Weg auf das Klein Matterhorn nicht mit der 40 Jahre alten Pendelbahn antreten, sondern mit dem neuen Stolz des ganzen Mattertals. Bereits der Weg zur Seilbahn ist Teil des Gesamterlebnisses. Wuchtige Holzbalken prägen das Interieur der Talstation. Sie bilden einen bewusst perfekten Kontrast zu den himmelblauen Kabinen mit den beheizten schwarzen Ledersitzen. Die erste Kabine, die ich in der Talstation betreten will, öffnet ihre Türen nicht. Als eines von vier Exemplaren besitzt sie einen Glasboden, der an der Stelle mit dem größten Bodenabstand den Blick auf den darunterliegenden Theodulgletscher freigibt. Das gibt es jedoch nur mit Aufpreis. Auch so mangelt es aber nicht am Erlebnis. Sanft beschleunigt die Kabine aus der Station heraus. Eine weibliche Stimme ruft währenddessen in vier Sprachen zum Genuss der Fahrt ins sogenannte Matterhorn Glacier Paradise auf.

Ob dieses Gletscher-Paradies wohl noch lange Bestand hat? Der Blick aus der Kabine lässt erhebliche Zweifel aufkommen. Noch vor 20 Jahren ermöglichte der Theodulgletscher um diese Jahreszeit Skibetrieb bis zum Trockenen Steg. Heute befindet sich hier eine Geröllwüste. Quer hindurch verläuft das schmale weiße Band der einzigen verbliebenen Skiabfahrt, erzeugt von dem danebenstehenden Allwetter-Schneeerzeuger. Die Ausblicke sind trotzdem sehenswert. Und die Fahrt in luftiger Höhe allemal.

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Ein anderes Klein Matterhorn

Kurz vor der Einfahrt in die Bergstation meldet sich die Stimme aus dem Lautsprecher wieder. Sie wünscht einen angenehmen Aufenthalt auf Europe’s highest Mountain Station. Restaurant, Gipfelplattform, Gletschergrotte, Souvenir-Shop. Auf dem Gipfel gibt es mittlerweile genügend Attraktionen, die einen mehrstündigen Aufenthalt rechtfertigen. Die Aussicht auf die unzähligen Viertausender verkommt da schon fast zur Nebensache. Dass man sich mitten im alpinen Hochgebirge befindet, merkt man höchstens noch an der dünnen Luft in knapp 3.900 Metern Höhe. Ansonsten sind die Annehmlichkeiten inzwischen so ausgereift, dass manches Kaufhaus neidisch werden könnte. Die neue Seilbahn trägt ihren Teil dazu bei. Es fehlt nur noch das Schaufenster, durch das man die Bergwelt betrachtet.

Es ist ein anderes Klein Matterhorn als der Gipfel, den ich Ende der 90er Jahre kennen gelernt habe. Das Erlebnis war intensiver. Das lange Warten auf diese eine, besondere Fahrt. Das beklemmende Gefühl in der engen Kabine der Pendelbahn hoch über dem Abgrund. Die kalte Sichtbeton-Optik in den Stationen. Der eisige Wind, der durch die Stahlgitter pfeift. Der lange Weg durch den dunklen Tunnel bis zur Skipiste. Ohne zusätzliche Infrastruktur. Nur die Seilbahn, der Berg und das Eis.

Zweifelsohne ist der heutige Zustand nicht minder beeindruckend. Aber zugunsten des Komforts geht die Exklusivität eines Aufenthalts hier oben verloren. Mit zwei parallelen, leistungsstarken Bahnen ist das Gipfelerlebnis ein Stück weit zur Normalität verkommen. Der Perfektionismus hat seinen Preis. Genau wie der Massentourismus. Doch den meisten Zuschauern des Zermatter Schauspiels bleibt dieser Umstand vermutlich verborgen.

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Gratwanderung zwischen Realität und Fiktion

Ein Abstecher auf den Schwarzsee bringt mich dem Matterhorn noch einmal ein Stück näher. Der Kontrast zum Glacier Paradise könnte größer nicht sein. Das Berghotel ist verrammelt, die geschlossene Seilbahn zum Trockenen Steg pfeift als ungenutzte Requisite ihr einsames Lied im Wind.

Abseits des Haupttouristenstroms kommt die Bergwelt schon viel ursprünglicher daher. Die schmale Gratwanderung zwischen gesunder Realität und märchenhafter Fiktion gelingt dem Kosmos von Zermatt wie keinem anderen.

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Letzter Akt am Gornergrat

Zurück im Dorf kennt das Treiben dafür keine Grenzen. Noch ist die Aufführung nicht zu Ende. So geht es am späten Nachmittag ein weiteres Mal auf den Gornergrat. Mittlerweile sind die meisten Tagesgäste schon wieder nach Zermatt zurückgekehrt. Die Züge verkehren inzwischen nur noch stündlich. Und dennoch ist der Wagen bei der Abfahrt relativ leer.

Das Publikum ist ein ganz anderes als am frühen Morgen. Ein paar letzte Tagesausflügler sind noch unterwegs. Die restlichen belegten Sitzplätze werden von Gästen okkupiert, die auf dem Gornergrat übernachten werden. Ihr umfangreiches Gepäck lässt daran keine Zweifel aufkommen.

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Gerade einmal eine halbe Stunde dauert es, bis der Zug planmäßig um 17.57 Uhr auf dem Gornergrat eintrifft. Dort warten bereits Scharen von Personen, die noch vor Einbruch der Dunkelheit das Tal wieder erreichen wollen. Noch ein letztes Foto vom Matterhorn, dann ist der Bahnsteig wieder leergefegt. Sie wissen vermutlich nicht, was sie verpassen. Denn jetzt, wo sich die Sonne langsam dem Horizont nähert, verleiht sie dem Gornergrat ein ganz besonderes Antlitz.

Jenseits der Zivisation - Alleine im ewigen Eis

Bis zum Sonnenuntergang ist noch ein wenig Zeit. So erkunde ich die Gegend auf der Suche nach einem geeigneten Fotostandort. Ein Stück führt mich der Weg entlang des Berggrats in Richtung Hohtälli. Ganz alleine blicke ich hinab auf den tausend Meter unter mir fließenden Gornergletscher. Die Zivilisation liegt hinter mir. Auf einem Stein sitzend lasse ich die Szenerie auf mich wirken.

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Die Einsamkeit und Stille an diesem Ort lässt die Erinnerung an das Stockhorn hochkommen. Sehnsüchtig blicke ich in Richtung dieses Gipfels, der in weiten Teilen für meine Seilbahnbegeisterung verantwortlich sein dürfte. Immer noch steht sie da, die Station aus Stein. Als letzter Posten irdischen Schaffens inmitten des ewigen Eises. Fast so, als könnte jederzeit die nächste Kabine in Richtung des Stockhorns aufbrechen. So wie damals, im Sommer 1997.

Mit meinen sechs Jahren prägte mich die Reise auf den Gornergrat und weiter bis in 3.400 Meter Höhe wie keine andere. Und in diesem Moment merke ich, dass dieser Flecken Erde auch 22 Jahre später nichts von seiner Magie eingebüßt hat. Zermatt gibt es eben nur einmal.

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Bei bereits einbrechender Dunkelheit geht es mit dem letzten Zug des Tages wieder hinab. Während im Tal die ersten Lichter zu leuchten beginnen, verblassen draußen die Konturen der umliegenden Berge. Langsam schließt sich der Vorhang über Zermatt wieder. Die heutige Aufführung ist beendet. Auf dem Bahnhofsvorplatz säubert eine Kehrmaschine die Bühne. Die Vorbereitungen für die nächste Ausgabe laufen bereits.
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intermezzo
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Re: An einem Freitag in Zermatt

Beitrag von intermezzo »

@Felix:

Einfach grossartig. Das musste einfach mal gesagt sein.

Wunderschöne Bilder wie immer bei Dir, gepaart mit einer wundervollen Schreibe. Habe den Bericht zwar nur kurz überflogen, ich hole das aber dann dieses Wochenende nach. Und dann, das verspreche ich jetzt hoch und heilig, melde ich mich dann wirklich ausführlich zu Deinem grandiosen Zermatt-Freitag!

Bis gleich...
Leocat
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Re: An einem Freitag in Zermatt

Beitrag von Leocat »

Lieber Felix
Ein riesiges Dankeschön für diese umwerfende Reportage! Sowohl Text wie auch Bild sind einfach grandios. :super:
Zermatt ist halt schon etwas ganz Spezielles. Diese (vielleicht etwas zu) perfekte Welt des Tourismus, aber auch die fantastische Landschaft und die eher urchigeren Orte, die es dort oben ebenfalls hat, machen einen - jedenfalls mich - immer wieder sprachlos (so wie dein Bericht übrigens auch :wink: )

Trotzdem kann diese touristische (Schein-)Welt die zum Teil drastischen Veränderungen in der Natur nicht einfach so verschwinden lassen. Deine Eindrücke stimmen mich da nachdenklich und ich bin sehr gespannt, wie es in Zermatt und in diesem "Glacier Paradise" in der Zukunft aussehen wird und was für Folgen diese Veränderungen haben werden.
Nochmals vielen Dank!
Mfg Leocat :D :lol:
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Re: An einem Freitag in Zermatt

Beitrag von intermezzo »

Wirklich treffend und sehr schön beschrieben. Schlicht und ergreifend. Gerade auch in Kombination mit den hervorragenden Bildern. Aber dass Du exquisite Qualität ablieferst - geschenkt. Zermatt übt immer wieder eine Faszination aus, der grandiosen Bergkulisse sei Dank.

Nun, zu Deiner Reportage:

Für mich ist das der Schlüsselsatz über Zermatt schlechthin:
Der Perfektionismus hat seinen Preis. Genau wie der Massentourismus.
Diese beiden kurzen Sätze treffen den Nagel auf den Kopf. Das Ganze trifft für mich nicht nur auf das Kleine Matterhorn, oh sorry auf das «Glacier Paradise», sondern auf ganz Zermatt zu. Klar, Zermatt ist schon seit sehr langer Zeit eine Massentourismus-Destination. Mit solch' einem Alleinstellungs-Berg wie dem Matterhorn und der sonstigen Ansammlung an faszinierenden Viertausendern ist diese nie enden wollende Attraktivität von Zermatt auch alles andere als erstaunlich. Völlig klar, aber...

...bis Anfang der Nullerjahre ging es in Zermatt vergleichsweise dennoch recht gemächlich zu und her. Zermatt war zwar sportlich, aber nicht mondän, schon gar nicht glamourös. Das hat sich in den vergangenen 15 Jahren massiv geändert. Nicht zum Guten für meinen Geschmack. Die Zupflasterung des Talbodens sowie die endgültige Verbauung des Klein Matterhorns mit Bahnen, Aussichtsplattform, Restaurants, Kiosken etc. ist einerseits eine logische Fortsetzung des massiven Ausbaus des Schwarzsee-/Klein Matterhorn-Sektors. Andererseits auch völlig übertrieben. Aber gut, was tut man nicht alles, damit die stark wachsende asiatische (chinesische) Klientel nicht nur nach Engelberg und aufs Jungfraujoch pilgert...

Folgt später mehr.
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Re: An einem Freitag in Zermatt

Beitrag von ProfiSuisse »

Ich bin sprachlos. Ich weiss nicht, wie ich meinen grössten Dank dafür aussprechen soll. Einfach wunderbar, das geht direkt ins Herz! :D
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Re: An einem Freitag in Zermatt

Beitrag von Kabinenzug »

Auch von mir ein grosses Dankeschön für deinen wirklich tollen Bericht. Diese Kombination aus Text und Bild vermitteln eindrückliches und berührendes.

Bisher war ich selber noch nie in Zermatt. Das muss ich bald mal ändern.
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Felix
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Re: An einem Freitag in Zermatt

Beitrag von Felix »

Danke euch allen für die positiven Rückmeldungen!
intermezzo hat geschrieben: Di, 28.01.2020, 16:31 ...bis Anfang der Nullerjahre ging es in Zermatt vergleichsweise dennoch recht gemächlich zu und her. Zermatt war zwar sportlich, aber nicht mondän, schon gar nicht glamourös. Das hat sich in den vergangenen 15 Jahren massiv geändert. Nicht zum Guten für meinen Geschmack. Die Zupflasterung des Talbodens sowie die endgültige Verbauung des Klein Matterhorns mit Bahnen, Aussichtsplattform, Restaurants, Kiosken etc. ist einerseits eine logische Fortsetzung des massiven Ausbaus des Schwarzsee-/Klein Matterhorn-Sektors. Andererseits auch völlig übertrieben. Aber gut, was tut man nicht alles, damit die stark wachsende asiatische (chinesische) Klientel nicht nur nach Engelberg und aufs Jungfraujoch pilgert...
Das deckt sich exakt mit meiner Sicht der Dinge. Natürlich erfährt ein Ort wie Zermatt einen stetigen Wandel. Aber in diesem Fall kann man meines Erachtens eine klare Linie zwischen dem "alten" und dem "neuen" Zermatt ziehen. Und die liegt eben genau zu Beginn der Nullerjahre, ich würde sie sogar noch exakter datieren - nämlich auf das Jahr 2002. Das war das Jahr, in dem man angefangen hat, die Berginfrastruktur von Grund auf umzukrempeln.

Bau Schwarzsee, Furggsattel, Gifthittli, Stilllegung Gant-Platte, ... Insbesondere der Wegfall der stilvollen Pendelbahnen (auf die man ja anno 1998 am Hohtäli noch gesetzt hat) und der Bau der monströsen Umlaufbahnen hat die Wahrnehmung des Skigebiets schon merklich beeinflusst. Wirtschaftlich mag das sicher richtig gewesen sein, das ist angesichts des heutigen Erfolgs nicht zu bestreiten. Aber es war eben schon eine grundlegende Veränderung hin zu einem neuen Stil. Beeindruckend ist Zermatt aber natürlich immer noch. Und vielleicht sorgen ja erst die Nostalgiegefühle für das alte Zermatt dafür, dass das neue eben auch faszinierend ist.
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