30-ST Marzili - Bern

Technik-Reportagen aus dem Berner Oberland und dem Berner Mittelland.
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migi
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30-ST Marzili - Bern

Beitrag von migi »

30-ST Marzili - Bern

Jeder Schweizer kennt die Aareschleife in Bern, welche die Altstadt der Schweizer Hauptstadt halbinselförmig umfliesst. Über Jahrtausende hat sich die Aare dort einen tiefen Einschnitt geschaffen. Während die eigentliche Stadt oben auf der Ebene liegt, haben sich am Aareufer verschiedene kleinere Siedlungen gebildet. Unter anderem findet man unterhalb des bekannten Bundeshauses das Marziliquartier. Dort befindet sich neben einem gemütlichen Wohnviertel auch das Marzilibad, ein bei der Berner Bevölkerung während der Sommermonate sehr beliebtes Freibad. Allerdings liegt zwischen Marzili und der Altstadt ein Höhenunterschied von 30 Metern. Die Bewohner am Aareufer hatten so immer einen anstrengenden Aufstieg vor sich wenn sie denn ins gut 30 Meter höher gelegene Stadtzentrum gelangen wollten. Im Sommer 1894 machte sich daher ein siebenköpfiges Initiativkomitee unter der Führung vom damaligen, selbst im Marzili wohnhaften, eidgenössischen Staatskassier Robert Schnyder auf den Weg um für eine bequeme Erschliessung des Marziliquartiers mittels einer Seilbahn zu sorgen. Das dafür nötige Aktienkapital von 60 000 Franken war schnell gefunden und auch die Konzession für den Bau und Betrieb traf am 13. Dezember des gleichen Jahres ein. Am 3. März 1895 begannen schliesslich die Bauarbeiten an den Stationen und der nahezu auf kompletter Länge auf einer Stahlträgerbrücke verlaufenden Strecke. Nach kurzer Bauzeit konnte der Betrieb bereits am 18. Juli 1895 aufgenommen werden, pünktlich zum Beginn des eidgenössischen Schützenfestes.

Die lokale Bevölkerung war sofort begeistert von der bequemen Aufstiegsmöglichkeit. Bereits im ersten Betriebsjahr wurden über 100 000 Passagiere befördert - zu einem Fahrpreis von 10 Rappen pro Person. Betrieben wurde die Bahn per Wasserballast. Das dafür nötige Wasser stammte aus dem Berner Stadtbach und wurde in einem 90 000 Liter fassenden unterirdischen Reservoir nördlich der Bergstation vorgehalten. War der Wasserzufluss bei trockenem Wetter zu gering, wurde jedoch mitunter auch teures Trinkwasser aus dem städtischen Versorgungsnetz genutzt. Eine Füllung des Tanks des sich in der Bergstation befindenden Wagens mit der standardmässigen Wassermenge reichte aus um 10 Personen bergwärts zu transportieren. Über Klingelsignale konnte das Personal aus der Talstation ein grösseres Passagieraufkommen mitteilen, so dass mit bis zu 3500 Liter Wasser maximal 30 Personen pro Fahrt transportiert werden konnten. Mit Hilfe des in der mittigen Zahnstange laufenden Bremszahnrads war es dem Wagenführer auf dem talfahrenden Wagen über eine Handkurbel möglich die Geschwindigkeit, im Normalfall ungefähr 1,5 Meter pro Sekunde, zu kontrollieren. Eine automatische Zentrifugalbremse sorgte dafür dass beim Überschreiten einer Fahrgeschwindigkeit von 1,8 Metern pro Sekunden ein Nothalt erfolgte. Zusätzlich konnte über ein Fusspedal von beiden Wagen manuell eine sofortige Notbremsung ausgelöst werden.

Bereits im Jahr 1913, passend zur damaligen Landesausstellung, wurde die Bahn zum ersten Mal überholt. Die beiden grünen Wagen wurden durch neue, etwas geräumigere Exemplare ersetzt. Den Wasserballastbetrieb behielt man jedoch weiter bei. Gleichzeitig erhielt die bis dahin als Aareziele-Bahn bezeichnete Seilbahn ihren heutigen Namen. Insbesondere während der sommerlichen Schwimmsaison war der Andrang oft gross und die zum vollständigen Füllen des Wassertanks benötigte Zeit von gut sieben Minuten führte zu längeren Wartezeiten. Durch ein optimiertes Zuflusssystem konnte man die Füllzeit 1921 auf ungefähr die Hälfte senken. Wirkliche Abhilfe schuf dann jedoch erst ein 1929 eingebauter Injektor, mit dessen Hilfe der Tank in gerade einmal 45 Sekunden gefüllt werden konnte.

Als sich zu Beginn der 70er-Jahre trotz regelmässiger Renovierungen - unter anderem in den 50er-Jahren der Neulackierung der Wagen in einem braunen Farbton - eine grundlegende Erneuerung des gesamten Anlage inklusive der Gebäude von Berg- und Talstation aufdrängte, entschied man sich unter anderem aufgrund der weniger personalintensiven Betriebsabwicklung für einen Umstieg auf eine zeitgemässe Antriebstechnik. Am 23. September 1973 verkehrte das Marzilibähnli zum letzten Mal angetrieben alleine durch die Schwerkraft. Am 5. April des Folgejahres wurde nach mehrmonatiger Umbauzeit der elektrische Betrieb mit der inzwischen dritten Wagengeneration auf um fünf Zentimetern erhöhter Spurweite von 80 Zentimetern aufgenommen. Seither wird die Bahn von der Bergstation aus durch einem einzigen Angestellten bedient, welcher gleichzeitig auch den Fahrscheinverkauf übernimmt. Die Talstation wird mit Kameras überwacht, der Zugang zu den Kabinen ist durch Glasschiebetüren gesichert, die sich erst öffnen wenn der Wagen vollständig zum Stillstand gekommen ist.

Die beiden alten Wagen aus dem Jahr 1914 haben glücklicherweise überlebt. Wagen 2 befindet sich im Verkehrshaus der Schweiz in Luzern. Der Wagen 1 wurde in Sichtweite der Talstation auf einem Stück altem Gleis aufgestellt und erinnert dort jeden Fahrgast an frühere Zeiten. Jährlich befördert die Marzilibahn heutzutage ungefähr eine Million Passagiere. Mit ihrer Streckenlänge gehört sie zu den kürzesten Seilbahnen der Welt. Innerhalb von Europa gibt es gerade mal eine einzige kürzere Anlage in Zagreb. Betrieb herrscht täglich durchgehend von 6 Uhr morgens bis 21 Uhr abends. Fahrten finden dabei ohne festen Fahrplan nach Bedarf statt. Insgesamt zehn Mitarbeiter, die meisten davon in Teilzeit beschäftigte Rentner, sorgen für den sicheren Fahrbetrieb. Der vom Personal bewirtschaftete - und gelegentlich mit Wasser aus den Tanks der Wagen gegossene - Garten unter der Stahlbrücke existiert nicht mehr. Auch die Brücke selbst wurde, wie der Antrieb in der Bergstation, im Winter 2014/2015 vollständig erneuert. Das kleine Bähnchen erfreut sich trotzdem weiterhin grosser Beliebtheit und gehört inzwischen zu Bern wie der weltbekannte, nicht weit entfernte Bärengraben.


Link zum Datenblatt:

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BildMit 105 Metern Streckenlänge ist die Marzilibahn die zweitkürzeste öffentliche Standseilbahn in Europa.

BildEin Wagen unterwegs kurz oberhalb der Ausweiche.

BildBlick von der Talstation bergwärts.

BildEin Wagen verlässt die Talstation.

BildDer Wagen 1 erreicht nach kurzer Fahrt die Bergstation.

BildFast die komplette Strecke verläuft auf einer Stahlträgerbrücke. Foto: Patrick Balzli

BildDie Talstation mit getrenntem Ein- und Ausstieg.

BildDie Bergstation besteht aus zwei Etagen. Während oben der Zugang und der Kommandoraum liegen, befindet sich in der unteren Etage der Antrieb.

BildDie Bergstation liegt auf der Bundeshausterrasse. Ungefähr am Standort des Fotografen befand sich das unterirdische Wasserreservoir mit einer Kapazität von 90 000 Litern.

BildDer alte Wagen 1 wurde 2009 frisch aufgearbeitet und ist in Sichtdistanz zur Talstation als Denkmal aufgestellt.
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salvi11
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Re: 30-ST Marzili - Bern

Beitrag von salvi11 »

Danke für den Bericht der mir bis anhin fast unbekannten Bahn. Ich wohne ja nicht weit weg von der Stadt Bern, dennoch fuhr ich sie erst einmal Retour.

Ich hätte nicht gedacht, dass damals sauberes Wasser, also Wasser aus dem Stadtbach genommen wurde. (Sogar Trinkwasser bei trockenem Wetter? :shock: ) Ich vermutete selbiges System wie in Fribourg. Dort wird bekanntlich Abwasser verwendet, noch heute sogar.
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